Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (aktuell)
Flachdach versus Steildach - am Beispiel unseres Marktplatzes
Von Raimund Vollmer
Damit die Position klar ist: Flachdach steht für das Progressive,
steht für links. Steildach steht für das Reaktionäre, steht für rechts. So
dachte man in der Welt der Architektur vor 100 Jahren. Aufs heftigste abgelehnt
wurde damals die Moderne. Den Menschen stand der Sinn nach dem Völkischen, nach
dem Historischen - bis in die Antike hinein. "Im Steildach sahen sie den
architektonischen Inbegriff deutscher Lebensform", schreibt Klaus Englert
in einer Rezension des Buches "Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft"
von Gerhard Fehl. "Der Einsatz für diese (deutsche Lebensform) war
gekoppelt an die Abwehr angeblich 'undeutscher Einflüsse' wie den
Maschinen-Kult im amerikanischen Städtebau oder die Großindustrie mit ihren
Rationalisierungsmaßnahmen".
Stimmungsarchitektur nennt Englert diese Hinwendung zum Steildach. Das
Flachdach war allenfalls bei Industriebauten gelitten - und da auch nur mit
Vorbehalt, weil Fabriken ja Ausdruck der Moderne, Symbole für Rationalität und
Produktivität waren.
Nach dem Ersten Weltkrieg war das industrielle Reutlingen indes
vor allem noch Steildach, also stinkkonservativ - architektonisch gesehen und
wunderbar zu beobachten am Marktplatz. Aber bei der Wende zu den 30er Jahren
begann auch das Flachdach seinen Siegeszug. Begonnen hatte alles mit dem neuen
Hallenbad, ein Flachdachbau, der 1929 eingeweiht wurde und die Alte Kelter, ein
Steildach, verdrängt hatte. Mit dem Abriss des Gasthauses Ochsen, einem
Steildach, eroberte das Steildach in den frühen dreißiger Jahren den Marktplatz.
Ersetzt wurde das Gasthaus durch den Flachdachbau der Sparkasse, bei der die
Ideen des Bauhauses wohl Pate gestanden hat. Aber das war's dann. Der "Krieg
der Dächer" schien wohl erst einmal an Reutlingen mehr oder weniger vorüberzugehen.
Richtung Tübinger Tor: Wo das Flachdach gesiegt hat...
So richtig hat dann erst der zweite Weltkrieg dem Flachdach
in Reutlingen den Weg freigebombt. Nun gab es kein Halten mehr. Dabei kam
Reutlingen zumindest mit ihrer Einkaufsmeile noch ganz gut weg, die sich im
Unterschied zu vielen andern Städten ihren Steildach-Charakter hat erhalten oder
wiederherstellen können. Doch in der südlichen Hälfte des Marktplatzes triumphiert
für alle Zeiten das Flachdach. Der Bau des Rathauses markiert hier den
Höhepunkt. Das scheint nun unerschütterlich so zu bleiben. Das Rathaus steht gar
unter Denkmalschutz. So stehen sich nun zwei Fronten gegenüber - mit dem Effekt, dass man von den Flachdächern
aus vor allem auf die Steildächer schaut und umgekehrt.
Richtung Gartentor: Wo sich das Steildach behauptet hat
Das Steildach hat indes in letzter Zeit Dachboden
gutgemacht. Das Textilhaus Haux, als Flachdach nach dem Krieg wiederaufgebaut, schmückt
heute ein Steildach, auf dem übrigens einmal ein Dachterrassencafé geplant war.
Leider ist es nicht dazu gekommen. Geändert haben sich inzwischen die
Besitzverhältnisse. Heute ist hier das Textilhaus Zinser, das übrigens im
steildachigen Tübingen seinen Hauptsitz hat - in einem Flachdach-Gebäude, etwas
außerhalb der Altstadt. Und so ist es auch in Reutlingen. Dass das Spendhaus in
den achtziger Jahren noch in eine Steildachumgebung postmodern eingebettet wurde,
hat man vergessen. Im Umfeld der Stadthalle dominiert das Flachdach - bis in
den Neubau der GWG hinein.
Nach 100 Jahren könnte man ja wieder mal neu denken.
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