Samstag, 10. Dezember 2016
Reutlingen - die Stadt, die wir vielleicht unterschätzen...
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Der Listbrunnen, der Listplatz und das Parkhotel List waren dereinst das moderne Markenzeichen der Stadt Reutlingen. Nun sucht unsere Oberbürgermeisterin Barbara Bosch nach einer neuen Marke.
Das muss man ja nun auch mal positiv erwähnen: Reutlingen hat nach Aussage von Oberbürgermeisterin Barbara Bosch eine Pro-Kopf-Verschuldung von 763 Euro. Das ist unglaublich niedrig und nur um 33 Euro mehr als Wolfsburg. Die Autostadt liegt bei der Verschuldung am untersten Ende jener 73 Großstädte in Deutschland, die mehr als 100.000 Einwohner haben. Oberhausen hingegen, eine Stadt aus dem Kohlenpott, hat eine Rekord-Verschuldung von 9792 Euro je Einwohner. Der Standort ist wie die der meisten Großstädte mit erhöhter Schuldenlast in Nordrhein-Westfalen.Aber dort gibt es auch die meisten Großstädte, nämlich 29, in Baden-Württemberg sind es nur neun.
Gut gewirtschaftet wurde dennoch in der Großstadt Reutlingen.
Die andere Seite desselben Platzes - aus Gründen, die wir nicht näher bezeichnen können, ist dieser Platz für Jahrzehnte der Inbegriff Reutlingens gewesen. Für die Bürger jedenfalls.
Leider sagt die Studie der amerikanischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young nichts über Reutlingen an sich. Sie ist auch nicht unter den drei Städten mit der geringsten Verschuldung pro Kopf aufgeführt. Dabei wäre - gemessen an den Angaben unserer OB - Reutlingen vor Jena die Stadt mit der drittniedrigsten Pro-Kopf-Verschuldung. Im Unterschied zum Statistischen Bundesamt schauen die Wirtschaftsprüfer wohl auch in die Nebenhaushalte, also in die Beteiligungen.
Nichtsdestotrotz könnte man Reutlingen für eine kerngesunde Stadt halten, die nun auch zeigen will, dass sie beherzt ihre Themen anpackt. Da kann man schon verstehen, dass die Stadt in die Zukunft investieren will - und sei es auch um den Preis von mehr Schulden.
Denn nichts ist so wichtig wie die Zukunft. Jemand, der 1975 aus NRW nach BW kam, weiß das nur allzu gut. Der Strukturwandel weg von Kohle und Stahl scheiterte daran, dass man im Ruhrgebiet nicht wusste, wie die Zukunft aussehen würde - und wenn man es erahnte, sie einem nicht gefiel. Zu lange waren die alten Industrien die Zukunft gewesen und verwandelten sich schließlich zu einer hochsubventionierten Vergangenheit. Keiner kann so etwas ohne fremde Hilfe schultern.
Nun stellt sich die große Barbara-Frage: Was ist die Zukunft Reutlingens?
Das ist unser aller Thema, nicht nur der Stadtverwaltung und des Gemeinderates mit der Oberbürgermeisterin als gemeinsamer Spitze. Das ist ein Thema, das uns vor allem als Bürger betrifft. Und hierzu bekommen wir keine Antwort. Wir sehen nur, dass man mit der Vergangenheit kurzen Prozess macht. So verschwand vor 40 Jahren Klein-Venedig. So verschwand jetzt die verhagelte Gerberschule. Abgerissen.
Das war schon immer eine Postkartenansicht gewesen - Klein-Venedig. Wir alle wissen, es war damals charakterbildend. Heute wäre es markenverdächtig. Gibt's nicht mehr. Wegen der Zukunft, die keiner mehr so genau kennt.
Die Zukunft an sich ist noch keine Zukunft, sondern muss mit Inhalten gefüllt werden. Da hat man manchmal den Eindruck, dass unsere Leute in der Verwaltung etwas ratlos sind. Wenn schon unsere eigenen Experten hilflos sind und sich zu jedem kleinkarierten und großkartierten Thema den Rat bei Gutachtern holen müssen,dann wird man als Bürger schon irgendwie stutzig. Zumal die Gutachter, so ist jedenfalls der Eindruck, gar nicht aus Reutlingen, noch nicht einmal aus unserer Region kommen. Sind wir intellektuell unterbesetzt, um es mal ganz vorsichtig auszudrücken? Das mag man gar nicht glauben, schon gar nicht bei so viel Sparkompetenz. Was ist dann die Ursache? Sind wir in der Verunsicherung unserer Leute in den Ämtern inzwischen so weit, dass diese ihrem eigenen Urteil nicht mehr vertrauen? Vielleicht wurden sie mit so vielen Paragraphen und Anweisungen zugemüllt, dass sie nicht mehr wissen, was eigentlich Sache ist. Befinden sich unsere Behörden in einem postfaktischem Trauma? Dürfen die Mitarbeiter ihren eigenen Augen nicht mehr trauen?
Vielleicht haben wir alle, also auch die Bürger, einen Knick in der Wahrnehmung, machen die Stadt schlechter, als sie ist. So nimmt es die Oberbürgermeisterin wahr und rügt. "Reutlingen verkauft sich unter Wert", titelt heute mit ihren Worten der Reutlinger General-Anzeiger. Da haben wahrscheinlich unsere vier Bürgermeister den besseren Überblick. Sie kennen die Zukunft. Wir nicht.
Wir leben immerhin in einer Stadt, in der alle vier Bürgermeister nicht aus Reutlingen kommen. Sie haben die Kompetenz derjenigen, die in ihrem Leben auch mal etwas anderes gesehen haben als nur unsere Stadt. Warum dann ein anderer Fremder, der bereits ernannt worden war, noch nicht einmal mehr zu seinem Antrittsbesuch erscheinen wollte, mag uns da leicht irritieren. Ein anderer wollte lieber Schlager singen als um unsere Zukunft ringen. Die Stadthalle, umstritten nach wie vor, ist auch nicht von einem Reutlinger Architekten entworfen worden, ebenso nicht die neue "Tonne", mit der man allerdings unangenehmerweise kostenmäßig ein Fass aufgemacht hat. Stattdessen decken wir auf Beschluss des Gemeinderates den Listbrunnen zu, weil er wohl zu sehr an ein Reutlingen erinnert, das einstmals uns Bürgern gehört hat.
Irgendwie ist das schon alles seltsam, fast schon komisch. Reutlingen ist überfremdet - von Experten. Als Bürger steht man da ganz, ganz winzig da, verkriecht sich in seine Bildertanz-Ecke und pflegt in Blog und Facebook mit alten Bildern über Reutlingen seine Inkompetenz. Wir sind halt von gestern.
Wenigstens hier - ganz unter uns - können wir uns dann fragen: Haben wir in unserer Stadt, auf den Ämtern, wirklich nicht die richtigen Leute?
An der Marienkirche - Dienstleistung ist manchmal ein karges Brot. .
Auch von unseren Stadträten kommen keine großartigen Inspirationen. Die Räte machen nicht den Eindruck, als sei Phantasie ihre große Stärke. Andererseits: Das klingt dann wieder auch solide, grundsolide. Keine Spinner. Keine Phantasten. Keine Scharlatane. Alles wird technisch und rechtlich sauber abgewickelt. Am besten auch in "Time & Budget". Das Gefühl für Korrektheit ist so hoch entwickelt, dass uns schon ein paar Schnurbäume emotional durcheinander bringen. Und wem so mancher Führungsstil nicht passt, dem weist man die Tür, wobei man gerne Ursache und Wirkung verwechselt. Aber das sind alles "Petitessen", um einen Kunstbegriff von Willy Brandt zu benutzen. Es sind Kleinigkeiten. Regen wir uns also nicht auf, clicken auf Bildertanz und schauen uns die Welt von gestern an. Da hat zumindest Reutlingens Vergangenheit Zukunft. Und zwar jeden Tag. Und es stimmt auch hier: "Wir verkaufen uns unter Wert." Wer unsere Bildertanz-Präsenz im Netz mit anderen Großstädten vergleicht - vornehmlich mit denen aus NRW - wird sehen, dass die ganz anderen Zulauf haben als wir. Das liegt daran, dass die Rheinländer einfach kommunikativer sind, aber dafür sind wir solider. In allem. Und das wird in der Tat schon einmal unterschätzt.
Wenn es eine Zukunft für Reutlingen gibt, für die unsere Oberbürgermeisterin kämpft, dann ist es die Idee der Stadt an sich, der Großstadt im besonderen. Weltweit geht der Trend zur Stadt - und nicht zum Land. Deshalb ist der Ausstieg aus dem Landkreis eigentlich auch nur folgerichtig. Mit ihrer hohen Verdichtung bei den Infrastrukturen ist die Stadt das wirtschaftlichste Gemeinwesen überhaupt. Hier bekommst Du alles. Hierher kommen alle. Und Reutlingen tut alles, damit es neben Stuttgart, Tübingen und Metzingen bestehen kann. Und dennoch: "Die Stadt verkauft sich unter Wert."
Denn der Stadt fehlt eins - und das ist ganz wichtig im Konkurrenzkampf um Menschen, Arbeitsplätze und Zukunft. Die Stadt hat kein wirklich überragendes Alleinstellungsmerkmal. Früher waren es mal die Millionäre, das Unternehmertum, die Gerber und Färber, die Textilindustrie. Und heute?
Das einzige Argument der Stadt ist, dass die Stadt rein numerisch Großstadt ist - wie 72 weitere Städte in Deutschland auch. Mehr ist da nicht. Wirklich nicht.
Die große Barbara-Frage führt uns zu keiner Antwort.Aber die wird großstädtisch inszeniert. Denn nun will die Oberbürgermeisterin Reutlingen zu einer Marke machen. Da muss man Geld in die Hand nehmen und den PR- und Marketing-Beratern in den Rachen werfen. Sie werden sich freuen. Und wir, die wir jeden Tag an der Marke Reutlingen im Bildertanz arbeiten, fragen uns: Ob die Markenmacher wohl aus Reutlingen kommen.
Auf jeden Fall - und das sagt jetzt einer, der vierzig Jahre dieses PR- und Markengedöns beobachten durfte - ist ein solches Investment meistens die Strategie der Habenichtse. Und die, die haben wir in Reutlingen wirklich nicht nötig.
Eine Marke entsteht nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt - und wenn es dann soweit ist, dann ist sie auch plötzlich da. Man muss dann nur noch zugreifen.
Bildertanz-Fotos: Sammlung Klaus Bernhardt
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2 Kommentare:
Puh, da suhlt man sich mal wieder in Selbsterniedrigung, so etwas wie das Merken-Zeichen des BildeRTanz'. Wie üblich. Eines sei jedoch angemerkt: Eine Marke entsteht nicht zwangsläufig "von unten". Eine Marke ist in aller Regel eine Kreation, die aus einer klaren Strategie und Vision entsteht. Marken sind das Ergebnis eines intensiven Denk- und Entwicklungsprozesses, sie umfassen gemeinhin Merkmale, die eine Marke von einem Wettbewerber differenziert. Entlang dieser Strategie richtet sich die Positionierung der Marke aus und deshalb ist es auch nicht falsch, sich dem Markenentwicklungsprozess intensiv zu widmen. Wenn die Reutlinger nun wirklich so sind, wie sie vom BildeRTanz dargestellt werden, dann ist es vielleicht gar nicht verkehrt, wenn sich darum jemand von außerhalb kümmeRT. Sonst wird es ja nicht, fehlt es doch den Reutlingern an allen Ecken und Enden an Inspiration und Kreativität. Schauen wir uns also ruhig die schönen Fotos aus der guten alten Zeit an und freuen uns daran, dann wird schon alles gut.
Lieber Claus, Danke für Ihre Worte. Jemand, der das Machen von Marken verkauft, würde bestimmt ähnlich argumentieren. Und jedes BWL-Schulbuch würde diese Logik sofort akzeptieren. Leider berichten solche Lehrbücher nie über das, was noch nicht in den Lehrbüchern steht. Das wäre ja paradox. Und weil sie den eigenen Widersprüchen so aus dem Weg gehen, führen sie unsere Studenten immer so schön weg von allem, was Kreativität und neue Ideen anbelangt. Von außen - heißt demnach eben nicht von Leuten, die Lehrbücher lesen oder schreiben (die sind oftmals die schlimmsten Verhinderer von Neuerungen.)
Ihr Raimund Vollmer
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