Eine unzeitgemäße Betrachtung eines Bezirksgemeinderates/ Ein Kommentar von Raimund Vollmer
1944: "Es ist nicht schwer, der großen Masse das selbständige Denken abzugewöhnen. Aber auch die Minderheit, die sich eine Neigung für Kritik bewahrt, muss zum Schweigen gebracht werden."
Friedrich von Hayek, Nobelpreisträger, in seinem Buch "Wege zur Knechtschaft"
Eigentlich wollten wir ja nur über Vernunft und Unvernunft
des Beschlussvorschlags zur Wohnungsbaupolitik diskutieren. So war unsere
Annahme, als wir im Februar der Einladung der CDU an die Bezirksgemeinderäte
folgten und uns im kleinen Sitzungssaal des weißen Rathauses trafen. Und
irgendwie gingen wir nach zwei Stunden mit dem Eindruck nach Hause, dass es
schon ganz sinnvoll sei, wenn wir - die Bezirksgemeinderäte - zu der Politik im
Weißen Rathaus gefragt werden würden. Nicht nur bei einer informellen Veranstaltung, sondern auch offiziell. In unserem Gremium. Mit dem
Blick für unseren Teilort, aber auch fürs Ganze.
Ich bin jetzt im achten Jahr als Bezirksgemeinderat dabei und hatte noch nie den
Eindruck, aber auch nicht für einen einzigen Augenblick, dass wir bei allen Themen,
die das Große und Ganze mit dem Lokalen & Banalen verbanden, uns gegen die
Interessen der Stadt gewandt haben. Im Gegenteil: wir haben uns im Rahmen
unserer kleinen Möglichkeiten bemüht, das Große und Ganze zu wahren, weil im
Rathaus mitunter das Lokale & Banale übersehen wurde. Unsere Sicht war immer die von
unten nach oben - und nicht nur die von unten auf unten. Unsere Beschlüsse, von denen wir
wussten, dass sie ja letztlich doch nur eine beratende Bedeutung haben, waren
immer getragen in dem Bewusstsein, dass wir beim Amtsantritt einen Eid auf das
Wohl Reutlingens abgelegt hatten, auf das Wohl der gesamten Stadt.Und insofern waren wir stets konstruktiv, aber nicht opportunistisch.
In dieser Beziehung unterscheidet sich unsere Verpflichtung und unser Handeln in
keiner Weise von den Eiden, die unsere großen Kollegen und Kolleginnen aus dem
Stadtrat geleistet haben. Wenn allerdings uns - expressis verbis - in einer
Sitzung des Rates unterstellt wird, dass wir ja letztlich nur Kirchturmpolitik
machen, dann ist das nicht nur arrogant (was meistens ja eine Funktion von
Ignoranz ist), sondern auch irgendwie ein Eigentor. Denn unser Stadtparlament
besteht - wie Landtag und Bundestag - aus Fraktionen, die dazu neigen, ihre
Stimmen geschlossen abzugeben. Der Begriff Fraktion kommt aus dem Lateinischen
und bedeutet Bruchteil (fractio).
Wenn wir, die Bezirksgemeinderäte, einen Ortsteil vertreten,
dann vertreten die im Stadtrat präsenten Parteien nur einen Bruchteil. Aber da
geht man einfach drüber hinweg. Stattdessen darf man heute im GEA lesen:
"Wenn jeder seine partikularen Interessen vertritt, dann kommen wir im
Ganzen nicht weiter", wird Jürgen Fuchs, Fraktionsvorsitzender der Freien Wählern zitiert. Der
Satz zeigt ein seltsam verkürztes Denken. Woher nimmt Fuchs die Gewissheit, dass wir, die Ortschaftsräte,
nur partikulare Interessen vertreten? Wenn das stimmt, dann gilt das nicht
minder für die Fraktionen - unabhängig davon, dass unsere Wahrnehmung immer
gebrochen ist. Eine totale Sicht wäre ihrem Anspruch nach wohl auch totalitär.
Es ist also ein Satz, der gefährlich ist, weil
er den Grundsatz der Demokratie aushebelt: Gewaltentrennung - also der
Bruch des Totalen - ist deren Urprinzip. Ohne diese Trennung kann sich keine Demokratie Demokratie nennen. Wir haben eben nicht die unter dem Vorwand des
Gemeinwohls gleichgeschalteten Gewalten, sondern deren sehr bewusste Trennung. Die Sicht der Exekutive ist getrennt von der der
Legislative und die wiederum getrennt von der der Jurisdiktion. So ist das in
einer Demokratie. Und damit fahren wir gut.
Sie ist das Geniale, das uns das Urvertrauen ins Recht, in
den Staat und in die Politik anbietet und gaewährleistet. Demokratie herrscht selbst dann, wenn
nur 24 Prozent der wahlberechtigten Bürger zur Wahl ihrer Oberbürgermeisterin
gehen. Niemand, auch nicht die Nichtwähler, die eine absolute Mehrheit
stellten, bezweifelt, dass Frau Barbara
Bosch 2011 zu Recht gewählt worden ist. Niemand wird ihr unterstellen, dass sie
nicht das Große und Ganze im Blick hat. Dabei ist sie nur von einer Minderheit
gewählt worden. Bei den Kommunalwahlen, denen die Stadträte 2014 ihr Amt zu
verdanken haben, kamen die meisten Wähler aus den Bezirken, nicht aus der
Kernstadt. Gerade dort, wo das Partikulare doch offensichtlich im Vordergrund
zu sein scheint, interessiert man sich - das zeigt die Wahlbeteiligung - am stärksten für das Gesamte. Man geht zur
Wahl.
Auch die rund 7000 Freunde des Bildertanzes, die allein auf
Facebook unsere Beiträge abonniert haben, zeigen mit ihren Kommentaren, wie
sehr ihnen die Gesamtstadt am Herzen liegt, ohne deshalb den Sinn fürs Detail
zu verlieren. In ihrer Kritik steckt stets eine große Liebe zu dieser Stadt.
Wir, die Bezirksgemeinderäte, wissen um unsere allenfalls
beratende Funktion. Wir stehen dem großen Rat gerne mit unserem Rat zur Seite. Wir
wollen aber nicht nur informiert werden, wir sind nicht nur
Informationsempfänger. Wir haben uns nicht der Wahl gestellt, damit wir uns als
verlängertes Sprach-Organ der Stadträte wähnen dürfen. Wir sagen nicht, dass
wir mitentscheiden wollen, sondern wir wollen mitreden. Und zwar Kraft der uns
von den Wählern aufgegebenen Autorität.
Deshalb geben wir unserem Rat, unserer Information, manchmal
die Autorität eines Beschlusses - nicht, weil wir die Macht der Räte damit
unterlaufen wollen, sondern damit - im Sinne des Aufklärers Immanuel Kant - die
Maxime unseres Wollens eingehen kann in eine allgemeine Beschlusslage. Das ist
ein sehr, sehr sensibles Unterfangen, getragen von dem selben
Verantwortungsbewusstsein, das wir unseren Stadträten konzedieren. Wir wissen,
dass wir nicht entscheiden. Wir entscheiden aber, was wir zu den anstehenden und
uns betreffenden Themen sagen wollen. Und das machen wir in unseren Sitzungen,
das kann nicht nur durch Infoveranstaltungen der Stadt alibisiert werden. Wir
nehmen uns das Recht heraus, jederzeit über alles reden zu dürfen - auch und
gerade zum Schutz und Nutzen des Großen und Ganzen.
Der Artikel im GEA aber vermittelt den Eindruck, dass wir
mit unseren Ratschlägen nicht das Großdenken der Stadträte stören dürfen. Diese
deutliche Abgrenzung, derzufolge wir so viel zu sagen haben, wie es den Räten
gefällt, ist ein kleiner, aber auch gefährlicher Schritt auf dem Weg in die Zeit vor der
Aufklärung, also jener Epoche großer Denker, denen wir alles zu verdanken haben,
was wir an Wohlstand und Freiheit erreicht haben.
Man kann es auch einfach sagen: Was da im GEA an Aussagen steht,
ist "Anmaßung von Wissen". So nannte es ein Mann, der mit seinem 1944 verfassten Werk "Wege
zur Knechtschaft" eine ganze Generation von Politikern prägte, in dem er sie den klugen Umgang mit der Macht lehrte. Friedrich
von Hayek, der 1974 den Wirtschaftsnobelpreis bekam, warnte dabei nachdrücklich vor der Tendenz, im
Namen des Großen und Ganzen jegliche Form der Kritik nicht nur zu unterdrücken,
sondern gar als Sabotage zu klassifizieren und damit als strafwürdig anzusehen.
Natürlich sind wir weit und breit von einer solchen Entwicklung entfernt. Auch deshalb, weil wir unsere Meinung sagen, ob sie nun gefällt oder nicht.
4 Kommentare:
Lieber Raimund,
laut Hauptsatzung kann sich der Bezirksgemeinderat mit allen für die Ortschaft wichtigen Fragen befassen. Ihr hättet doch das Wohnungspapier eigenständig auf Eure Tagesordnung setzen können. Und das könnt Ihr auch immer noch.
Herzliche Grüße
Hagen Kluck
Danke für diesen Hinweis. Werde ich an unseren Bezirksbürgermeister weitergeben. Warum aber wird dann aus dem Stadtparlament heraus so argumentiert, als wären wir dafür gar nicht zuständig. Ich bin Dir sehr dankbar.
Sie schreiben am Schluß: "Friedrich von Hayek .. warnte vor der Tendenz, im Namen des Großen und Ganzen jegliche Form der Kritik nicht nur zu unterdrücken, sondern gar als Sabotage zu klassifizieren und damit als strafwürdig anzusehen. Natürlich sind wir weit und breit von einer solchen Entwicklung entfernt."
Diesen Optimismus teile ich nach Lektüre des Kommentars von Martenstein im Tagesspiegel über Maas' Gesetzentwurf "Erdoganismus in Reinkultur" nicht.
tagesspiegel.de/politik/gesetzentwurf-von-heiko-maas-erdoganismus-in-reinkultur/19537970.html
Danke, habe den Kommentar im Tagespiegel gelesen. Mein Schlusssatz stünde nicht dort, wenn nicht das "Wehret den Anfängen" gemeint sei. Vielleciht sind wir über die Anfänge schon hinaus. Ich habe als Journalist gelernt, dass die Selbstzensur fast schon der größte Gegner der Meinungsfreiheit ist. Und die hat ihre Ursachen in sehr subiteln Techniken, die viel gefährlicher sind als die des Herrn Ministers. Auf jeden Journalisten kommen heute drei PR-Menschen.
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