Montag, 25. September 2017

Ist Frau Bosch unsere Frau Merkel? Gedanken vor und nach einer Wahl



Bildtext: Wir sind mehr als nur Publikum. Wir entscheiden. Wir sind die Kulturmacht. Reutlinger beim Bildertanz der Kulturnacht am vergangenen Samstag im Spitalhof.

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

SO IST DAS: Die Bürger haben die Opposition gewählt. Nun haben sie diese im Bundestag gleich doppelt und dreifach. SPD, AfD und Die Linke.
SO IST DAS: Die Qualität einer Regierung definiert sich durch die Opposition. Letztere muss stark sein, damit sich die Regierung stark macht - für die Probleme der Bürger.
SO IST DAS: Opposition ist wichtiger als die Regierung. Egal, wie man zu den einzelnen Parteien steht, dies ist das Signal dieser Wahl an die Parteien.
Nun brechen wir diese drei Thesen mal herunter auf die Kommunalpolitik, bei der in Reutlingen in weniger als anderthalb Jahren die Wahl eines neuen Stadtoberhauptes ansteht. Frau Bosch ist unsere Frau Merkel, wobei sie ihr sogar um ein Jahr Amtszeit voraus ist, sich aber auch nur alle acht Jahre zur Wahl stellen muss.  
Bei der OB-Wahl in 2019 kann es am Ende nur eine(n) OB geben, wie es auch nur einen Bundeskanzler geben kann. Doch der OB wird direkt gewählt, nicht über die Mehrheiten in einem Parlament. Die Verlierer bleiben zudem außen vor, ihre Stimmen fallen komplett unter den Tisch. Nur wenn sie nicht schon im Stadtrat sitzen, haben diese sieglosen Gegenkandidaten die Chance auf Opposition. Oft kommen die Bewerber - so auch Barbara Bosch 2004 - von außerhalb und sind in der Regel Verwaltungsprofis. Sie sind in gewisser Weise Nomaden der Politik, die nach verlorener Schlacht weiterziehen. Herr Schulz als Gegenspieler zu Frau Merkel drängte zwar auch von außerhalb an die Spitze in Berlin, aber er gehört fortan dem Bundestag an - als Chef der größten Oppositionspartei (wenn es sich die SPD nicht noch einmal anders überlegt.)
Eine heimische Opposition können wir - zeitversetzt und in Fünf-Jahres-Intervallen - erst mit den Kommunalwahlen zum Gemeinderat als dem "Hauptorgan der Gemeinde" neu bestimmen. So will es die Gemeindeordnung. Und wir alle wissen aus dem gelebten Alltag unserer Gemeinden, dass es der Bürgermeister ist, der mit fast schon präsidialer Macht über alles wacht. Er ist der Vollprofi, unterstützt durch Dezernenten, die ebenfalls Vollprofis sind und - wie in Reutlingen - von außen kommen. Der Gemeinderat besteht aus Amateuren, Ehrenamtlern, die ihren Wohnsitz in der Gemeinde haben müssen und zumeist hier schon lange leben.
OB und Gemeinderat sind auf vielfältige Weise asynchron. Mit der Wahl zum Oberbürgermeister wählen wir nicht zugleich neue Konstellationen für die Opposition. Wir wählen unseren Präsidenten, der - weil direkt gewählt - ein hohes Maß an Unabhängigkeit besitzt.
Die Regierung ist eindeutig wichtiger als die Opposition. Ist das nun ein Zeichen von Stärke oder eher eins der Schwäche?
Weil eine Opposition, also ein veritabler Gegenkandidat, fehlte, war die Wahlbeteiligung bei der letzten OB-Wahl mit 25 Prozent sehr, sehr niedrig, beschämend niedrig und dem Amt, dem wichtigsten in unserer Stadt, nicht angemessen. Minderheit bildet Mehrheit, das ist nicht gut. Bei der Bundestagswahl waren es 75 Prozent Wahlbeteiligung - schon deshalb, weil es Alternativen gab. Von diesem Wahl-Angebot haben die Bürger gerne Gebrauch gemacht. Und die Bewerber haben gerne und mit vollem Einsatz mitgemacht, weil sie wussten, dass sie auch dann eine Chance zum Mitmachen haben, selbst wenn sie selbst nicht Bundeskanzler werden können.
Es wäre für Reutlingen eine riesige Bereicherung, wenn im kommenden Jahr eine oder gar mehrere Persönlichkeiten aus dem Gemeinderat bereit wären, sich als Kandidat für die Wahl zum Amt des Oberbürgermeisters aufzustellen. Es würde die Bedeutung des Stadtrates als "Hauptorgan der Gemeinde" (Gemeindeordnung) immens aufwerten. Es wäre einer echten Großstadt angemessen.
Es gibt diese Leute, die "OB" könnten. Ohne Zweifel. Selbst wenn sie ihre Chance gegen die Amtsinhaberin als nur gering einschätzen, der Versuch allein würde das politische Leben in Reutlingen enorm aufwerten. Und es muss doch der ganze Stolz unserer Amtsträger sein zu zeigen, dass hinter der OB-Wahl eine hohe Wahlbeteiligung steht. Und wir, die Bürger dieser Stadt, würden uns auch als Bürger fühlen, nicht nur als kalt zu verwaltende Einwohner, deren Bedeutung auf eine "Fragestunde" reduziert ist.
Es wäre der wichtigste Schritt zum Werden einer echten Großstadt, einer gelebten Großstadt. Es hätte mehr Wirkung als jeder Slogan, den man sich gerade geben möchte. Jeder würde wissen: "Reutlingen. Die Stadt, die lebt"

Bildertanz-Quelle: RV

2 Kommentare:

familierauch hat gesagt…

Ja, das mit den Gegenkandidaten ist so eine Sache, leider ist ein Wahlkampf nicht Zuckerschlecken und teuer. Erst müsste man jemand finden, der sich - obwohl meist aussichtslos - dazu aufrafft, viel Geld in die Hand zu nehmen um bei wenig Chance sich aufstellen zu lassen. Glaubt mir, es dreht sich dabei nicht nur um ein paar Euro und ein paar Wahlplakate.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Das glaube ich sofort. Wenn ich jetzt ein boshafter Mensch wäre, würde ich sagen, es scheitert am legendären Reutlinger Geiz. Aber die Parteien, die im Parlament vertreten sind, müssten den Aufwand doch irgendwie stemmen können - und Spenden gäbe es bestimmt. Außerdem sehe ich da Köpfe, die durchaus eine Chance hätten, vielleicht sogar auch das Geld. Es wäre gut investiertes Geld, weil es die Arbeit unserer Gemeinderäte aufwerten würde, ohne die Autorität des/der OB zu schmälern. Mein Respekt vor beiden würde jedenfalls ganz enorm steigen. Ganz bestimmt auch der Respekt der Institutionen vor sich selbst.
Ich möchte (und da bin ich hoffentlich nicht allein) nämlich stolz sein auf das Parlament, deren Stadtverwaltung und deren Chef/in.