Sonntag, 15. Oktober 2017

SCHADSTOFFE: "INSEL DER SELIGEN" - Nur Reutlingen nicht?



REUTLINGEN oder die Stadt der Zukunft (Teil 3)

Von Fürstentümern und anderen Schutzräumen

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Blumen gegen Schadstoffe: Es darf auch mal bunt sein, muss nicht immer grün sein
Mit 66 Mikrogramm pro Kubikmeter liegt Reutlingen um 26 Mikrogrammpunkte über dem erlaubten Maß. Zum Vergleich: Schwäbisch-Hall 19, Karlsruhe hat einen Wert von 39, Pforzheim 40, Freiburg 41, Heidelberg 42, Mannheim 46, Leonberg 47, Tübingen 48, Backnang 56, Ludwigsburg 53,  Heilbronn 57, Reutlingen 66 und Stuttgart 82. (Quelle: Focus online)

Podiumsdisput: Chefredakteur Joachim Dorfs (Stuttgarter Zeitung, Mitte) lenkte artig das Gespräch zwischen Dr. Kay Lindemann, Geschäftsführer des VdA, und Winfried Hermann, unserem Verkehrsminister.

Er war als der Gegner zu Winfried Hermann positioniert worden: Dr. Kay Lindemann, Geschäftsführer des Verbandes der Automobilindustrie. Dass er das Wort "Mensch" wenigstens einmal in den Mund nahm, ist ihm angesichts der Nullvorstellungen vieler anderer Referenten hoch anzurechnen. Er wies natürlich beim Kongress "Stadt der Zukunft" (Veranstalter Stuttgarter Zeitung) nachdrücklich und nachhaltig darauf hin, dass "die Luft besser geworden ist", auf jeden Fall seit der Hochzeit der Industrialisierung, aber auch seit 1990. Und wenn man bei den Messtationen auf den Stundenhöchststand schaut, so der Lobbyist, dann hätten 2011 noch elf Stationen die Marke von 200 Mikrogramm je Kubikmeter erreicht, 2016 seien es hierzulande nur noch 2-3 Stationen gewesen und für dieses Jahr erwartet er, dass kein Ort mehr den Stundenhöchstwert reißt. Also etwas geht doch - und bestimmt auch in Reutlingen, das mit - man möchte fast schon sagen - gesundem Abstand zu Stuttgart in Baden-Württemberg auf Platz 2 steht. 
Dortmund-Hörde, des Autors Geburtsort, im Schrebergarten seiner Großeltern. Im Hintergrund die Hochöfen von Hösch
Ich bin 1952 in Dortmund geboren. Das war damals nicht die gesündeste Stadt in Deutschland. Kohle und Stahl bestimmten hier die Wirtschaft, die Luft, das Leben. Meine Geburtsstadt ist heute, was NOX-Werte anbelangt, mit einer Kennzahl von 51 deutlich weniger belastet als Reutlingen. Damals sprach man davon, dass Du - wenn Du an einem heißen Sommertag deine Wohnung verließest - anschließend ein von Schweiß durchtränktes Brikett in deinem Hemdkragen haben würdest. Bald nach meiner Geburt zogen wir ins saubere Münsterland (Ahaus). Und auch hier hatten die Westfalen einen trockenen Spruch parat: Auf dem Weg ins Münsterländle (es ist in vielen Dingen schwäbischer als das Schwabenland) hätte ich zum ersten Mal "das Licht der Welt" erblickt. Mein Vater, der auch Journalist war und in den sechziger Jahren beim Ruhrsiedlungsverband arbeitete, berichtete schon damals, dass die Ruhr der sauberste Fluss Europas sei. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es nicht mein Vater gesagt hätte. Es war der Parallelfluss Emscher, der den ganzen Dreck abbekam und dessen Renaturierung mit Sicherheit mehr Aufwand kostete als die geglückte Sanierung der Echaz.
In der Tat - im Vergleich zu den Jahren in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts leben wir mit unseren Umweltwerten auf einer "Insel der Seligen", wie es Lindemann bezeichnete. Das stimmt umso mehr, wenn wir unser Land im Vergleich zu den großen Städten in Asien setzten. "Das ist nicht der Untergang des Abendlandes", meint er angesichts der aktuellen Situation in Deutschland. "Im internationalen Maßstab sind wir ganz gut unterwegs". Dass er nicht begeistert ist von der "Blauen Plakette, die momentan in der Trommel ist", war zu erwarten, Für ihn ein "verschleiertes Fahrverbot", von dem angesichts der  Spitzenwerte ganz besonders Reutlingen betroffen wäre.
In der Diskussion mit dem Verkehrsminister Hermann machte dieser deutlich, dass er nicht besonders glücklich ist, wie Richtersprüche in die Lage eingreifen. "Ein Richter kann kein Verkehrskonzept entwickeln." Fürwahr! Das ist ein Killerargument, aber er kann die Politik dazu zwingen, eins zu entwickeln. Hermann: "Alte Gesetze müssen überarbeitet werden, wir brauchen neue Formen, neue gesetzliche Grundlagen". Niemand widersprach ihm. 
AM ZOB DER GUTEN HOFFNUNG: Monatelang wusste man allerdings in Reutlingen nicht, wann welcher Bus wo abfährt. Neue Anzeigetafeln wollten sich einfach nicht zeigen.
Lindemann wollte ihm da nicht widersprechen, zumal ja unklar war, auf welchen Gebieten diese neuen gesetzlichen Grundlagen erarbeitet werden sollten. Dass man "mehr Kreativität wagen" solle, er dabei nicht unbedingt "Uber das Wort reden" wolle, war irgendwie beiden klar. Wenn aber der öffentliche Personennahverkehr "nicht mehr nur exakte Routen" fahren würde, sondern sich zum Beispiel mehr nach dem Bedarf richten würde, dann wäre das zum Beispiel ein erster Schritt. Er hatte dabei, er arbeitet seit 2008 in Berlin, das Beispiel des Flughafenbusses TXL im Blick. Das ging aber auch in Richtung Bürgerbus. Das Taxiwesen nahm er sich ebenfalls vor. "Der Inbegriff des Wettbewerbs ist das nicht", befand er, ohne allerdings konkreter zu werden. 
In einem Punkt wird man ihm aber pauschal zustimmen können: "Das Recht schützt alte Strukturen." Und dann ging er doch ans Eingemachte. Er knöpfte sich den "ÖNPV" vor. Der habe mit seiner Tarifpolitik Fürstentümer errichtet. Und da konnte Hermann nicht nachstehen: "Das Ticketsystem ist ein Barrieresystem".(Stimmt das auch für Reutlingen? Wenn man sich mal an den Preis gewöhnt hat, finde ich, ist es ganz okay, oder?)
Von "adaptiver Verkehrssteuerung", einem Expertenbegriff für das, was wir uns zum Beispiel unter Grüner Welle vorstellen, sprach Lindemann - ein Segen, den die Digitalisierung der Städte uns Bürgern bringen könne - als Fußgänger, als Fahrradfahrer, als Autofahrer oder Fahrgast. Und Hermann wünschte sich "nicht so viele Autos an falschen Orten". 
Fußgänger in der Wilhelmstraße: So lebendig kann eine Stadt sein - ganz ohne Ampeln. Nicht ganz: die Blumenampeln stehen über allem
Ehrlich gesagt: In dem Augenblick habe ich nicht so sehr an die ihm besonders verleideten Parkplätze und Laternengaragen gedacht, sondern an rote Ampeln, die den Verkehr nach Regeln steuern, die vor allem politisch formuliert wurden und deswegen aus der Sicht eines Fußgängers, Fahrradfahrers, Autofahrers unverständlich sind. Nur die Busse haben irgendwie einen Knopf, über den sie sich per Fernsteuerung das Grün verschaffen können. Aber da kann ich mich - wie überhaupt in allem - natürlich täuschen...
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (Fotos)

Weitere Unzeitgemäße Betrachtungen von Raimund Vollmer

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Stadt im Widerspruch (1): Stadt der Solitäre (1/2018)


SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen? 
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft? 
  
Das Beispiel Altenburg - Die Degradierung der "Stadtbezirke"

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Die Stadthalle -Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem Jahrhundertprojekt

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