Sonntag, 17. Dezember 2017

Gedanken zum 3. Advent: Das eigentliche Leben

2015: Da musste der Weihnachtsbaum noch nicht eingezäunt werden - wie in diesem Jahr. Selbst die Insekten in der diesjährigen Ausstellung bekamen Zäune. Es ist soweit: Wir müssen die Kultur einkapseln.

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Das Thema liegt wohl in der Luft: "Künstler, emanzipiert euch", titelte am gestrigen Samstag die FAZ auf Seite 1 ihres Feuilletons. Da heißt es im Vorspann: "Die Kultur ist zur Magd der Politik geworden. Überall dient sie sich an und buchstabiert die Tagesthemen nach." Als ich dann in den Artikel einstieg, dachte ich spontan an die Worte unseres ehemaligen Finanzministers Hans Apel: "Ich glaub', mich tritt ein Pferd." Hier wurde - nur viel besser formuliert - genau das gesagt, was ich am Freitag versucht hatte, unter der Überschrift "Unsere Stadt und ihre Subkultur" zu formulieren. Ein Beitrag des polnischen Theaterregisseurs Antoni Libera in der Zeitschrift "Tumult" wurde dort referenziert. Hier fragt sich der Künstler, "warum der Kunst eigentlich ihr emanzipatorisches Potential abhanden gekommen sei" (FAZ). Und dann wird er mit dem Satz zitiert: "Die heutige, restlos den ökonomischen und politischen Mechanismen verfallene Welt hat die Veranlagung verloren, aus sich selbst wahrhaft unabhängige Körperschaften oder Institutionen zu schaffen, welche sich ausschließlich von ästhetischen Rücksichten leiten lassen. Solche Zentren gibt es nicht mehr, weil es keinen Boden gibt, aus dem sie erwachsen könnten". 
Natürlich lieben wir den Lichterglanz. Wir möchten ihn nicht missen. Und die Welt der LEDs eröffnet uns ganz neue Perspektiven. Jetzt muss nur noch uns ein Licht aufgehen...

Natürlich haben wir einen florierenden Kulturbetrieb, auch wenn - wie dieselbe Ausgabe der FAZ berichtet - 2016 zwei Millionen Menschen weniger in Deutschlands Museen gegangen sind als im Vorjahr. Es waren immer noch 111,9 Millionen. Aber die FAZ findet auch: "Der Drang, sich vom Tag unabhängig zu machen, sich die Freiheit zu nehmen, Gegenwirklichkeiten zu erschaffen, Traumbilder, Manierismen, Sprachkunstwerke scheint geschwächt wie nie." Die Kunst wirkt ideenlos. "Wo ist die künstlerische Lust am Befremdenden, Gegensätzlichen, Geheimnisvollen, Unerklärlichen hin?" 


Natürlich ist das keine Kunst, kein Joseph Beuys war hier, sondern der ansonsten so gerne bemühte Weihnachtsmann, der uns am Ende auch den Müll lässt.
Auf der Rückseite dieses Feuilletons kommt dann die britische Schriftstellerin Zadie Smith, Jahrgang 1975, zu Wort. "Es ist unmöglich, ein einzelner Bürger zu sein und ständig an all das zu denken, was sich in der gesamten Welt ereignet. Es ist unmöglich, sich selbst als globaler Bürger zu erleben." Sie meint, "es könnte notwendig sein, politisch wieder mehr auf der lokalen Ebene zu denken. Es scheint mir verlogen, so zu tun, als wäre es leicht für die Menschen, in einer globalisierten Ökonomie zu leben." 
Dahinter steht keine Verzagtheit, sondern der Wunsch sich auf sein eigenes Leben zu konzentrieren - nicht in einem narzisstischen oder sozialromantischen Verständnis, sondern jenseits von "Ruhm und Prominenz". Da schreibt sie, wohl im Rückgriff auf Andy Warhol, der jedem Menschen prophezeite, dass er einmal für fünf Minuten weltberühmt sein werde, dass "die meisten von uns im Glauben" aufwuchsen, "dass sie eines Tages selbst berühmt sein und auf diese Weise vor dem bewahrt werden würden, was das eigentliche Leben ist."
Genau darum geht es: Um das eigentliche Leben. Es geht darin um die Gegenwirklichkeiten, um das, was wir uns wünschen, zurücksehnen, herbeisehnen. All das macht eine Kultur aus - der Rückblick und der Ausblick. Ein Leben, das sich nur aus dem Augenblick definiert, ist unerträglich. Aber der Politik scheint es allzu oft nur um diesen Augenblick zu gehen, fast schon wie im Pakt zwischen Mephisto und Dr. Faust: "Werd ich zum Augenblicke sagen:Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!" Es mag diese Augenblicke geben, in denen alles sich zu erfüllen scheint, Glaube, Hoffnung, Liebe, aber ihre Bedeutung bekommen sie nur aus dem Leben. Und das Leben fließt, es steht nicht still. 

Auch nicht in Reutlingen - trotz seiner Erneuerung durch eine zeitlose, geschichtslose und gesichtslose Moderne, die nichts anderes kann, als den Augenblick erinnerungslos festzuhalten.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Verpackung wird überschätzt