Dienstag, 2. April 2019

Das Ende der Bosch-Moderne




Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Ja, sie feierten sie - und sie feierten sich. Gestern abend wurde Barbara Bosch, seit 16 Jahren die "Frau Oberbürgermeisterin", in Reutlingens Stadthalle vor rund 1000 Gästen verabschiedet. 3,5 Stunden Reden und Performance hatte uns Helge Thun, der reimende und bezaubernde Moderator durch den Abend, angekündigt. Und er hielt Wort (es war sogar ein wenig mehr). Wir waren also gewarnt. Und so hatte jeder, der wollte, genug Zeit für eine Gesellschaftsstudie ohnegleichen. Denn hier feierten sich die Institutionen der Politik und der Verwaltung in geradezu perfekter Harmonie. Warum Politik immer weniger mit uns, immer mehr mit Verwaltung zu tun hat, mit Rechtswegen und Instanzen, mit Selbstinszenierungen und Fremdloben, mit Respekt und nochmals mit allem Respekt, das wurde uns, dem zuschauenden Volk, auf wirklich wunderbare Weise vorgeführt. Von der kurzweiligen Staatsministerin aus dem fernen Stuttgart bis hin zum langatmigen Gemeinderat aus dem nahen Reutlingen.

Selbstverständlich hat Frau Bosch eine Menge geleistet. Ohne Zweifel. Lob verdient sie allemal. Denn mangelndes Engagement kann man ihr wirklich nicht vorwerfen. Sie hat heiße Eisen angepackt und geschmiedet. Sie hat die Stadt verändert. Und das ist gestern abend so oft gesagt worden, dass man dem nichts mehr hinzufügen kann, ohne sie zu kritisieren.

Wirklich spannend war zu beobachten, wie groß die Szene ist, in der Menschen davon leben, dass sie sich gegenseitig permanent in ihrer eigenen Bedeutung bestätigen können. Es wirkte wie ein hermetisch abgeschirmter Zirkel, zu dem der "Qualitätsjournalismus" (Barbara Bosch) ebenso gehört wie der Mitarbeiter in den Vorzimmern der Macht. Wir - das wurde gestern noch einmal deutlich - aus den "sozialen Medien" gehören nicht dazu - wie überhaupt der Bürger eigentlich nur innerhalb der Wohltaten gewürdigt wurde, die die Instanzen der Macht uns gewidmet haben. 

Einen ganz normalen Bürger sprechen zu lassen, wie er die 16 Jahre Bosch wahrgenommen hat, auf die Idee ist keiner gekommen. Welchem intellektuell und ideell bestimmten Zukunfts-Bild unsere "Frau Oberbürgermeisterin" über  diese lange Periode gefolgt ist, wurde auch nicht deutlich. Ob bei Kitas oder Kultur, irgendwie blieb es stets - boshaft gesprochen - beim sozialen Gebäudemanagement stecken. 10.000 neue Arbeitsplätze seien in ihrer Amtszeit dazugekommen, hieß es wiederholt in den Laudationes. Stimmt (fast): 2017 waren es 55.763, 2003 waren es 46.777 Arbeitsplätze. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung (116.000 Einwohner) hat in unserer Stadt einen Arbeitsplatz.

Die andere Großstadt im Regierungsbezirk Tübingen ist Ulm, mit 122.000 Einwohnern durchaus noch vergleichbar mit Reutlingen. Hier ist die Zahl der Jobs im selben Zeitraum um 20.000 Arbeitsplätze gestiegen - auf 93.531. Das entspricht 75 Prozent der Bevölkerung.

Und so würde sich vieles relativieren, was an Lob gestern herüberkam. Aber in den geschlossenen Zirkeln der Macht kommt so etwas natürlich nicht zur Sprache. Stattdessen servierte uns Helge Thun seine von Doppelworten durchgedichteten Vierzeiler. Natürlich ist es ein sehr schwerer Job, diese Stadt wieder mit neuem Leben zu füllen. Und es war ganz bestimmt der Ehrgeiz der scheidenden OB, dies zu leisten. Vom "Bohren dicker Bretter" sprach Frau Bosch in Anlehnung an den Soziologen Max Weber, der der Bürokratie rationales Handeln unterstellte. Wie sehr diese sich gegenseitig stützt und schützt, wurde gestern wunderbar deutlich. Da wird der Oberbürgermeister zum Oberamtsmeister. Gegen diese Selbstbezüglichkeit der Verwaltung anzukämpfen ist - das muss man zugestehen - ein nahezu unmögliches Unterfangen.

Aber um diese Stadt neu zu beleben, brauchen wir genau diese Anstrengung. Wahrscheinlich hätte Frau Bosch genau dies in einer dritten Wahlperiode leisten müssen und auch können. Es wäre ihr Oberbürgermeisterstück geworden. So wartet diese Aufgabe auf den Nachfolger. 

Das 20. Jahrhundert ging gestern in Reutlingen zu Ende.

Dass es sich noch einmal selbst feierte, ist okay. Die Württembergische Philharmonie schloss - nach all den Reden - den Abend mit der West-Side-Story. Ein chaotisch anmutendes, vielstimmiges und -tönendes,  schwierig zu spielendes Stück - aber unglaublich gut inszeniert. Es war fast so, als wollte die Philharmonie mit diesem Stück aus der Tiefe des 20. Jahrhunderts einen Hinweis geben auf das, was sich in den nächsten Jahre entwickeln wird. Die Kunst ist ohnehin stets der Macht weit voraus.

In der Zukunft dieses Jahrhunderts wird sich vieles nicht mehr reimen. Es ist das Ende der vollkommenen Harmonie.

Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer

15 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wieso ist es ein sehr schwerer Job, diese Stadt wieder mit neuem Leben zu füllen??
Ich denke, dass ist ein Job, der allen Männern und Frauen viel Spaß macht :-))))))

Also: Ran ans Werk – und einfach machen statt jammern!

Anonym hat gesagt…

Dass am Ende Viel Harmonie aufspielt, reicht doch völlig.

Vollkommene Harmonie hat es noch nie gegeben, höchstens vor dem Urknall.
Und wir brauchen sie und vermissen sie auch nicht. Oder?

Raimund Vollmer hat gesagt…

Ein lieber Freund sagte immer: Harmonie verblödet. In dem Fall herrschte stets Harmonie zwischen uns.

Anonym hat gesagt…

Offenbar gibt es im Rathaus zuviel Harmonie :-))))

Anonym hat gesagt…

Die hat unsere Wilhelm-Straße wieder zudem gemacht was sie einmal war. Prall gefüllt mit Stil und Farben. Wunderbar!

Anonym hat gesagt…

Bei soviel Harmonie wird einem ja schlecht .....
Die Stadt präsentiert sich ja schon immer so aber was wirklich im argen liegt, das wird eigentlich immer vertuscht.
Wisst ihr was mich wirklich erschreckt hat.
Von den 118.000 Einwohnern haben nicht mal 50 % einen Arbeitsplatz !!!!
Was kann man da die 10.000 Arbeitsplätze mehr in 16 Jahren Amtszeit soooo loben.

Anonym hat gesagt…

Von den 118.000 Einwohnern haben nicht mal 50 % einen Arbeitsplatz !!!!

Oma&Opa wollen nicht mehr arbeiten – und die kleinen Enkel können noch nicht...

Wir werden immer älter und Kinder werden wieder häufiger geboren als vor Jahren.
Gottseidank!!!!!

Raimund Vollmer hat gesagt…

So einfach ist es nicht: Wir sind Vorort von Stuttgart. Dort sind die Arbeitsplätze, die in RT fehlen.

Anonym hat gesagt…

Arbeiten ist von Gestern. Man kann auch ohne zu arbeiten gut leben. Siehe unsere Mitbürger mit gescheitertem Integrationshintergrund.

Anonym hat gesagt…

Mein Vorposten hat offenbar einen gescheitertem Integrationshintergrund. Bitte diesen und den vorherigen Kommentar löschen. Der Blogger ist für seine Kommentare verantwortlich!!!!!

Anonym hat gesagt…

Was ist denn das für ein Vogel vom 4. April 2019 um 23:29?
Hat der Glyphosatkörner gepickt?

Danke für das Nichtlöschen. Es gibt ja schließlich noch kritische Nichtgutmenschen im Ländle. Die haben sogar noch gedient für diese Republik.

Analüst hat gesagt…

KOTZ!!!!!

Anonym hat gesagt…

Hier ist noch mal der Vogel – mit einer kleinen Anmerkung zu dem rechtsgläubigen Vollpfosten: Er hat sich als nicht integriert geoutet, obwohl er gedient hat. Integration in die Gemeinschaft ist nun einmal ein menschlicher Wesenszug. Das sollten bereits die Kinder umsetzen lernen, um sich zu sozialen, emphatischen Wesen zu entwickeln. Wer sich nicht in unsere Gesellschaft integriert, ist asozial. Leider gibt es auch solche Zeitgenossen...
Aber wir ungläubigen Menschen können damit umgehen. Normalerweise hat man ja mit Asozialen in der Gesellschaft wenig Kontakt. Das sagt ja schon der Begriff "asozial" aus. Leider ist das Internet grenzenlos!

Anonym hat gesagt…

Das Vögelein zwischert ja weiter und wird, wie auf fast allen Internet-Foren zu lesen ist, schnell sehr beleidigend und kommt weit vom eigentlichen Thema ab. Er glaubt, aus ein paar wenigen geschrieben Forenbeitragssätzen, welche bei Weitem nicht so erst gemeint waren, auf den Charakter des Autors schließen zu können. Aus meiner langjährigen, soziologischen Erfahrung habe ich gelernt, daß diejenigen, welche andere als asozial bezeichnen, meistens selbst im Glashaus sitzen.

Vielleicht hilft ihm ja ein wenig mehr Gläubigkeit an Gott und Jesus. Die 10 Gebote sind auch eine gute Orientierungshilfe, wie man sich benehmen sollte.

Seine Sorge um die ethisch korrekte Erziehung der Kinder macht unser Schulsystem leider seit ewigen Zeiten zunichte. Mal schlau machen, wie es da zugeht. War er vielleicht auf einer Waldorfschule und kann seinen Namen tanzen?

Was mich betrifft: mein polizeiliches Führungszeugnis ist makellos. Meine Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft ist überdurchschnittlich. Meine Empathie ist außergewöhnlich stark ausgeprägt. Im Beruf bin und war ich bei allen Kollegen immer sehr schnell hochangesehen wegen meiner Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Sozialkompetenz.
Also bitte in Zukunft solche Beleidigungen unterlassen. Sonst müssen wir uns mal persönlich in RT treffen um das zu klären. Vögelein darf Ort, Zeit und Erkennungsmerkmal bestimmen.

Anstelle von einer Captcha-Eingabe sollte man besser einen Intelligenztest absolvieren müssen, um hier im Bildertanz kommentieren zu dürfen.

Hans Maierlin hat gesagt…

Es staubt!