Donnerstag, 11. April 2019

Die Kulturkonzeption: Eine Bankrotterklärung?


1962: "Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung,
ob er will oder nicht."
Theodor W. Adorno (1903-1969), deutscher Philosoph und Soziologe[1]

2019: "Für eine offene und lebendige Gesellschaft
ist Kultur lebenswichtig."

Barbara Bosch, Reutlingens Oberbürgermeisterin von 2003-2019
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Es gibt wohl keinen größeren Gegensatz in einem Gemeinwesen als den zwischen Verwaltung und Kultur - und doch sind sie sich sehr nah. Darauf hat vor bald sechzig Jahren der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno hingewiesen. Wie nah Kultur und Verwaltung einander sind, aber auch wie weit voneinander entfernt, das macht auf geradezu beispielhafte Weise die "Fortschreibung der Kulturkonzeption Reutlingen" deutlich, die heute im Gemeinderat unter der Leitung des neuen Oberbürgermeisters Thomas Keck behandelt wird.

Die Leitung des Projektes, aus dem eine 74seitige Konzeption (ohne Anhang) hervorging, lag in den Händen von Dr. Werner Ströbele, dem Kulturamtsleiter der Stadt, und der selbständigen Stadtsoziologin Edith Koschwitz. Chef des Verfahrens ist aber Ströbele, der in seiner Einleitung auf die Ansprüche hinweist, die dieser Konzeption zugrundeliegen.

Sie haben es in sich - und vor allem über sich.

Solche Konzeptionen, so hatte Adorno schon angemerkt, "erlaubt es, Kultur derart als Einheit zu behandeln, wie etwa die Kulturdezernate von Städten es zu tun pflegen". Und genau in dieser Tradition steht das Ströbele-Papier, das den Gemeinderat beschäftigen wird.

Sicherlich wird es ihm nicht so gehen wie Adorno. Der würde nach der Lektüre "dem Drang, den Revolver zu entsichern", kaum widerstehen können, auch wenn er zugestehen würde, dass diesem Kultur-Konzept "seine Wahrheit zukommt". Ja, es ist sehr ehrlich, weil es ziemlich unumwunden sagt, wofür es steht. 
Im Prinzip ordnet es sich unter den Oberbefehl jenes Markenbildungsprozesses, den Frau Bosch im vergangenen Jahr angestoßen hat. Kultur soll die Stadt attraktiver machen. Zur Kultur kommt der Kommerz, das Marketing. 
Die Kultur liegt somit an der Kette. 
Der Begriff Freiheit, der ja das zentrale Element von Kunst als Königin der Kultur ist, taucht unter den Aufgaben, wie sie Ströbele auflistet, nicht  auf. Freiheit ist kein zentraler Teil.

Dabei war und ist sie die Basis, die Geschichte einer Stadt, zumal einer einstmals "freien Reichsstadt", wie es Reutlingen bis 1802 war. Kultur wird hier komplett instrumentalisiert. Sie ist "Imagefaktor und Publikumsbringer", schreibt Frau Bosch im Vorwort. Damit wird Kultur nicht nur  nützlich, sondern auch planbar. Das ist wichtig für alles, was Geld kostet. Nur so konnte die Stadthalle entstehen - in "Time & Budget", nur so konnte "Die Tonne" ihr Spiegelkabinett bekommen, nur so wurde das Kulturzentrum "franz K." machbar.

Die Errichtung eines Industriemuseum, das endlich angegangen wird, fügt sich problemlos ein in diese Richtung. Es ist planbar, weil es belegen kann, "dass Reutlingen einer der wichtigsten Industriestandorte in Baden-Württemberg war und auch noch ist. Einzigartige Exponate der Industrialisierung zeigen die industrielle Entwicklung Reutlingens und der Region. Erfindungen, unternehmerische und soziale Leistungen der Vergangenheit und Gegenwart unterstreichen den Wirtschaftsstandort Reutlingen." (Ströbele)

Was planbar ist, bekommt in Reutlingen Raum, viel Raum, auch teuren Raum. Aber alles andere, das sich einer Kontrolle entzieht, nicht planbar ist, wird ignoriert. Ein Atelierhaus, wie es sich die Kulturszene wünscht und in dem sich Künstler frei verwirklichen können, in Projekten, die sie selbst bestimmen, wird es eher nicht geben.
"Die Verwaltung ist dem Verwalteten äußerlich, subsumiert es, anstatt es zu begreifen", schreibt Adorno. So verfährt auch Ströbele. Er zählt auf, was Kultur ist, begreift sie nur aus dem, wozu sie dient. Wahrscheinlich vermutet er, dass sie nur dann auch der Gemeinderat begreift. Adorno hielte solches Verhalten für irrational.

"Früh schon", schreibt Adorno, "seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, hat Kultur gegen jene Zweckrationalität sich gesträubt". Je mehr sie sich distanziert, desto prekärer ist ihre Situation. Und da bleibt sie auch - die Kunstszene in Reutlingen.

Oberbürgermeister Keck wird heute aus der Perspektive seines neuen Hochsitzes auf die Kultur-Szene Reutlingen hinabschauen. Vielleicht wird er sich fragen: Was kann die Stadt Reutlingen für die Kultur tun und nicht: was kann die Kultur für Reutlingen tun? Dann wäre tatsächlich eine echte Einheit gegeben. So aber bleibt der Verdacht: Wo die Kultur "von den Menschen beliebig sich konsumieren lässt, manipuliert sie die Menschen" (Adorno). Das wäre eine Bankrotterklärung. Kehren wir deshalb den eingangs zitierten Satz von Frau Bosch ganz einfach um: "Für die Kultur ist eine offene und lebendige Gesellschaft lebenswichtig."


[1] Sociologica II, Frankfurt 1962, Theodor W. Adorno: "Kultur und Verwaltung"
 

Bildertanz-Quelle:

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Was bitte ist eine "selbständige Stadtsoziologin" ?

Raimund Vollmer hat gesagt…

Sie ist ihre eigene Firma!

Anonym hat gesagt…

Und wer sind Ihre Kunden? Die Stadtverwaltungen???

Raimund Vollmer hat gesagt…

Höchstwahrscheinlich. Sie steht zumindest der Verwaltung nah, um es mit Adorno auszudrücken. Aber müsste der Anwalt der Kunst und Kultur nicht im Stadtrat sitzen? Eine (selbst-)kritische Instanz? Schon dass es eine solche Diskussion in Reutlingen nicht gibt, sondern allenfalls eine Inititative dafür, dem Karfreitag einen Tanzboden zu geben, zeigt doch, wie weit Reutlingen noch entfernt ist von einem großstädtischen Umgang mit Kunst und Kultur.