Freitag, 14. Februar 2020

Reutlingen und die Frage: Wenn Charles De Gaulle den Krieg gewonnen hätte...




 Deutsche und Franzosen - im Reutlingen der achtziger Jahre eine intensive Freundschaft...
 ... in der man sich gegenseitig bewunderte...
... und ehrte. Deutschland war längst nicht mehr der unverbesserliche Erzfeind, für den uns der General Charles De Gaulle noch 1944 hielt.

(Erstveröffentlichung am 27. Dezember 2015)
Ein kleines Gedankenexperiment von Raimund Vollmer
Dieser Tage fiel mir eine längst vergessene Ausgabe der "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte" aus dem Jahr 1973 wieder in die Hände. Ich blätterte darin herum und stolperte in einen Beitrag zum Thema "Etappen der Außenpolitik De Gaulles - 1944-1946" hinein.[1] Ohne sonderliche Aufmerksamkeit begann ich zu lesen und merkte gar nicht, wie mich der Autor, der Historiker Walter Lipgens, in seine Geschichte hineinzog. Demzufolge hatte der damalige Chef der provisorischen Regierung in Frankreich, der spätere Präsident Charles De Gaulle, keinen größeren Wunsch, als sein Land zu alter Größe zurückzuführen und den Erzfeind Deutschland ein- für allemal als Ganzes von der poltischen Landkarte verschwinden zu lassen. Das Ruhrgebiet, dessen Kind ich bin, wollte er unter internationale Aufsicht stellen - mit dem Ziel, dass die Erlöse aus dem Verkauf von Kohle und Stahl Frankreich zukommen solle. Der Rhein sollte die Grenze zu einem zerstückelten Land sein, das im Westen so amputiert wäre wie im Osten.
Je mehr mich diese akribisch dokumentierte und recherchierte Geschichte faszinierte, desto mehr fragte ich mich, was wäre gewesen, wenn De Gaulle sich mit all seinen Vorstellungen durchgesetzt hätte. Es gäbe kein Baden-Württemberg, auf jeden Fall kein Baden, das wäre französisch. Es gäbe auch keine Bundesrepublik, vielleicht gäbe es ein eigenes Land namens Württemberg. Möglicherweise wäre Reutlingen als Teil der französischen Besatzungszone sogar auch nicht mehr deutsch, sondern würde zu Frankreich gehören. Erste Sprache hier wäre französisch, nicht schwäbisch. So wäre es vielleicht gekommen, wenn Frankreich den Krieg als gegenüber den Alliierten emanzipierte Siegermacht gewonnen hätte?
Aber es boten sich noch ganz andere Alternativen. Die nichtkommunistische "Resistance" in Frankreich glaubte nicht erst mit dem Einmarsch der Deutschen 1940, dass der Nationalstaat als solcher sich überlebt hatte und zu klein sei, um die wirtschaftlichen Probleme der Zeit lösen zu können. Er konnte ja noch nicht einmal dem einzelnen Bürger Sicherheit bieten. So  träumte der Widerstand von einer internationalen Gemeinschaft - von einem Europa, wie es sich - auch siebzig Jahre nach Kriegsende - zwar schon ziemlich entfaltet hat, aber immer noch im Entstehen ist. Die Außenpolitik De Gaulles, der sich mit seiner provisorischen Regierung innerhalb Frankreichs machtpolitisch durchsetzte, verzögerte diesen "Anpassungsprozess", meint Lipgens. Was aber wäre gewesen, wenn es De Gaulle nicht gegeben hätte? Wäre Frankreich überhaupt Besatzungsmacht geworden?
In Jalta, auf der Krim im Februar 1945, meinte der Kremlführer Josef Stalin gegenüber dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt über die Forderungen der provisorischen französischen Regierung: "De Gaulle scheint die Lage nicht zu erfassen, noch scheint er zu begreifen, dass Frankreichs Beitrag zu den militärischen Operationen sehr gering ist und dass es außerdem im Jahr 1940 überhaupt nicht gekämpft hat." [2]
Nur "aus Freundlichkeit" hatte Stalin in Jalta dem Ansinnen der Briten und Amerikaner zugestimmt, Frankreich eine eigene Besatzungszone zuzuteilen. Andernfalls wäre Reutlingen vermutlich amerikanische Besatzungszone geworden. Manches andere ließe sich dazu spekulieren - als reines Gedankenexperiment. Die USA, die ja immerhin mit fünf Millionen Menschen im 2. Weltkrieg engagiert waren, wollten sich ursprünglich nach zwei Jahren aus Europa wieder zurückziehen. Wären wir dann vollkommen unter den nicht minder starken russischen Einfluss geraten? Hätten die Briten allein dagegenhalten können? Hatte nicht Winston Churchill deshalb in Jalta Frankreich auf den Plan gerufen, weil er ein Gegengewicht zu Russland (und auch zu den USA) haben wollte? Wäre nicht - wie dann nach dem Krieg zu sehen war - Europa am Misstrauen der Länder untereinander endgültig zugrundegegangen, wenn die Amerikaner nicht geblieben wären und 1947 den "Marshall-Plan" ins Leben gerufen hätten?
Natürlich sind solche Fragen müßig und bestimmt auch laienhaft von mir vorgetragen. Und es sind sicherlich Fragen, die einem in der Muße von Feiertagen kommen und keine Antwort finden. Sie sind irgendwie sinnlos - und doch stimmen sie einen nachdenklich, weil man sie irgendwann auf sich selbst bezieht, auf sein eigenes Schicksal: Was wäre aus dir selbst geworden? Würdest du überhaupt hier leben? Vielleicht wären die Menschen, die hier wohnen, ein ganz anderes Volk, keine neue Heimat für die Vertriebenen, eine ganz andere Mischung an Zugereisten, was wäre mit all den Sitten und Gebräuchen, mit dem Mutscheltag, der Kehrwoche, dem Dialekt? Wie sähe unsere Stadt wohl heute aus? So ein wenig herumspinnen, macht ja auch intellektuellen Spaß. Am Ende wird man jedoch sagen können: Reutlingen hieße immer noch Reutlingen...


[1] Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 1 1973, Walter Lipgens: "Etappen der Außenpolitik De Gaulles"
[2] Der Spiegel, 14. April 1965, Arthur Conte: "Die Teilung der Welt - Jalta 1945"
 

Bildertanz-Quelle: Sammlung Bildertanz

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Raimund Vollmer hat gesagt…

Wir wurden gebeten, diesen sehr persönlichen Kommentar nicht zu veröffentlichen. Wir haben ihn so "gelöscht", dass er lediglich als Mitteilung an die Redaktion erhalten blieb.

Anonym hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Anonymus,

dass Sie den Herrn Dr. Kölle nennen, lässt bei mir wieder einiges "hochkochen". Dr. Kölle muss in der Sowjetunion (vermutlich als sehr junger Gefangener) schreckliches erlebt haben und einige Manieren des Paukens (sowjetischer Manier) wohl auch in sich aufgesogen haben. Ich habe den Herrn als schrecklichen Lehrer erlebt, der (auch aufgrund seiner Erlebnisse) mit heranwachsenden Jugendlichen völlig überfordert war. Selbst mein Bruder noch etliche Jahre später machte nahezu gleiche Erfahrungen. Ich meine dies hat dem Russisch- als auch dem Englischunterricht dieser Anstalt mehr geschadet als genutzt. Heute kann ich mir aus manchem Verhaltensmuster dieses Herrn, u.a. nach der Ausreise aus der Sowjetunion ein Studium "durchzuziehen" und dann mit Jugendlichen, die die Wohltaten eines offenen Bildungssystems nicht (wie er) erfassten und nutzten pädagogisch arbeiten zu müssen, schon einen Reim machen und manches nachvollziehen. Dies aber erst aus der Perspektive eines über 60-jährigen.

H. R.

Anonym hat gesagt…

Der Erbfeind wird noch staunen und erschauern, wenn Deutschland wieder erwacht.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Wir haben keine Erbfeinde mehr - außer in uns selbst.

Anonym hat gesagt…

Zum Glück gab es Charles De Gaulle. Zusammen mit Adenauer schaffte er, was
Jahrhunderte unmöglich schien: Die deutsch-französische Freundschaft.
Der Begriff "Erbfeind" erscheint 2020 völlig absurd, ja krank.