DIE WILHELMSTRASSE - WIE AUF MALLORCA
Fasching 2040: Rolltreppenaufgang von der Tiefgarage unterhalb des Marktplatzes zur mittleren Eingangshalle der Wilhelmstraße. In der Kuppel ganz oben sieht man das Gehäuse einer Reutlinger Straßenbahn, die 1974 ihren Betrieb einstellen musste. Heute fahren wieder jede Menge "Elektrische" durch die Stadt. Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
Zuerst einmal die gute Nachricht: die Wilhelmstraße wird im
Jahr 2040 eine einzige Mall sein. Ein mächtiges, vollklimatisiertes Glasgewölbe
hüllt die komplette Einkaufsmeile ein und schützt dabei nicht nur die Bürger
vor widrigen Wetterverhältnissen, sondern auch die Gebäude vor Erosionen, vor
Hagel und Sturm. Sommers wie winters herrschen in der Kathedrale des Konsums,
im Kaufhaus des Bestens dieselbe angenehmen, mediterranen Temperaturen. Im
Volksmund wurde die Mall bereits umgetauft in "Malle", in Erinnerung
an eine Insel, die wir Deutschen brauchten, um den Winter zu vergessen.
Mit der evangelischen Kirche hatte es ein paar Jahre zuvor
noch mächtig Zoff gegeben, weil diese sich dagegen verwahrte, dass der
Weibermarkt ebenfalls in den Glastempel einbezogen werden sollte. Doch man fand
eine Lösung, bei der die Marienkirche derart geschickt in das transparente Ensemble
einbezogen wurde, dass sogar die konfessionelle Konkurrenz ihren Besuch
angemeldet hatte, um nachzuschauen, ob dies nicht auch eine Lösung für den
Kölner Dom sei. Kirche und Kommerz haben eine wunderbare Kombination gefunden.
Auf jeden Fall hatte die Metzgerstraße wieder einmal das
Nachsehen - und auch die Einzelhändler in der Katharinenstraße, Kanzlei- und Oberamteistraße
waren ziemlich erbost. Nur aus der Museumsstraße kam kein Protest, aber da gab
es auch gar keinen Einzelhändler mehr. Doch diese Straßen sollen in den
kommenden Jahren in das Glas-Ensemble übernommen werden. Dies begrüßt auch der
Denkmalschutz, der begeistert ist davon, die Altbauten der Kernstadt gleichsam
in einer Glasvitrine schützen zu können.
Der Marktplatz - als Auswuchtung der Wilhelmstraße - hatte
noch den freien Himmel über sich - als ein richtiger Markt. Was in der Natur
wächst, soll auch in der Natur verkauft werden, hatten die Händler aus der
Landwirtschaft argumentiert. Allerdings
hatten sie für ein paar Jahre das Feld räumen müssen, weil unterhalb des
Marktplatzes ein gewaltiges Parkhaus gebaut werden musste. Keine Sorge, da
wurde kein Cent Steuergelder vergeudet. Vielmehr hatte die Stadt den Fahrdienst
Drunter & Druber dafür gewonnen (oder war es umgekehrt?).
Auf jeden Fall hatte man in den Jahren zuvor den gesamten
Personennahverkehr unter die Erde gelegt. Gewaltige Tunnelsysteme untergruben
die Stadt. Hier floss nun der gesamte Autofernverkehr durch. Die Reutlinger
selbst und auch die Bürger aus den umliegenden Gemeinden fuhren indes nicht
mehr mit dem eigenen PKW in die Stadt. Das Privatfahrzeug war mehr und mehr verpönt
- selbst bei Fernreisen und Durchreisen.
Wer in die Stadt wollte, zum Beispiel in Engstingen wohnte
oder in Walddorf-Häslach, der bestellte sich ein Auto über sein Smartphone (Fingerabdruck
genügt) und keine zwei Minuten stand ein selbstfahrender Smartie vor der
Haustür. Fast jeder in Reutlingen und im Rest Deutschlands war Abonnent bei
Drunter & Druber, die praktisch den gesamten Personen-Transport übernommen
hat.
Das Unternehmen selbst, das einmal Uber hieß und
amerikanischen Ursprungs war, hatte um 2020 herum aufgeben müssen. Per
Gerichtsbeschluss. Begründung: Der Transport von Menschen in selbstfahrenden
Fahrzeugen darf aus Haftungsgründen nicht Privatunternehmen überlassen werden. Das
sei ein Privileg des Staates. So der Bundesgerichtshof in einem umstrittenen
Urteil.
Die Kommunen hatten sich darauf bundesweit zusammengeschlossen
und ein eigenes Unternehmen gegründet - auf der Basis der von Uber übernommenen
Konkursmasse. Nun war der gesamte, nicht schienengebundene Personenverkehr in
städtischer Hand. Nicht ganz: die Kommunen hatte dazu eigene Privatunternehmen
gegründet. Aus Haftungsgründen.
Wer heute in die Innenstadt will, steigt also daheim in sein
Smartie ein, lässt sich zum Marktplatz chauffieren, dessen Tiefgarage als
Sammelplatz für diese vielen kleinen bunten Smarties dient. Er lässt sich bis
vor das Eingangstor der Wilhelmstraße fahren, steigt aus und befindet sich
Natürlich fahren diese Autos nicht mehr mit Benzin, sondern
mit Strom - geliefert von einer Tochtergesellschaft der Fairenergie. Ihr Name
ist ganz einfach: Fahrenergie.
Eine schlechte Nachricht haben wir auch noch: Metzingen hat
jetzt seine Outletcity aufgegeben. Die Konkurrenz aus Reutlingen sei einfach zu
stark...
Raimund Vollmer
1 Kommentar:
Da werden die Chinesen aber schön einkaufen können in diesem Glaspalast, da diese dann noch die einzigen sein werden, welche sich das Zeug leisten werden können. Wir haben sie ja schließlich ausgebildet um alles günstiger herstellen zu können.
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